Interview von Lennart Laberenz erschienen in der taz

Wir können kein weiteres Wachstum dulden

Am Hamburger Kolleg der Deutschen Forschungsgesellschaft „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ tagen Mitte März Wis­sen­schaft­le­r*in­nen zu staatlicher Planung und Postwachstum. Während der japanische Philosoph Kohei Saito seinen Vortrag hält, senkt sich eine gewisse Düsternis über den Austausch. Saito fragt, wie sich unter einem Klimakollaps Ökonomie und Emanzipationen denken ließen. Er schließt damit an die Gedanken aus seinem recht erfolgreichen Band „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ (DTV, 2023) an.

taz: Herr Saito, vor fünf Jahren sahen Sie den Degrowth-Marxismus am Horizont: einen Wandel hin zu einer Gesellschaft, die im Einklang mit den knappen natürlichen Ressourcen auf der Erde wirtschaftet – und in der dennoch alle genug haben. Eben haben Sie in einem Vortrag darüber sinniert, dass die Zukunft bestenfalls auf Kriegswirtschaft zulaufen wird. Was hat sich verändert?

 

Saito: Mein Buch „Systemsturz“ erschien 2020 in Japan. Damals gab es eine globale Klimagerechtigkeitsbewegung. Ich war begeistert, dass wir Menschen vielleicht lernen und gemeinsam eine neue Welt aufbauen könnten. Mit der Pandemie verschärften sich dann die Konflikte.

Die Welt ist viel gespaltener, reiche Länder monopolisierten Impfstoffe, bauen weiter natürliche Ressourcen ab. Wir haben heute eine tiefere Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden und müssen konstatieren, dass wir im Grunde unsere letzte Chance vertan haben. Wir steuern auf eine sich immer weiter verstärkende, weltumspannende Krise zu.

Im Interview: Kohei Saito

Jahrgang 1987, arbeitet als Associate Professor für Philosophie an der Universität von Tokio zu den Themen Ökologie, Wachstumskritik und politische Ökonomie. Sein Buch Systemsturz verkaufte sich in Japan mehr als 500.000 Mal. Er promovierte 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

taz: Und nun?

Saito: Ich halte den Degrowth nach wie vor für notwendig. Es ist eine biophysikalische Tatsache, dass unsere Ressourcen endlich sind, unsere Welt begrenzt ist. Der kapitalistische Weg von kontinuierlichem Wachstum und Akkumulation ist nicht damit vereinbar. Wir können kein weiteres Wachstum dulden.

Aus den Rückmeldungen zu „Systemsturz“ wurde mir jedoch klar, dass ich die Rolle des Staates zu wenig beachtet habe. Daran arbeite ich nun. Es ist notwendig, das Konzept des Kriegskommunismus wiederzubeleben, das auch der schwedische Marxist Andreas Malm weiterdenkt.

 

Es geht dabei nicht um sowjetische Dimensionen, sondern darum, zu betonen, wie wichtig der Staat als planender Mechanismus für eine Transformation ist. Der Begriff Kriegswirtschaft klingt martialisch, im Kern geht es aber um eine Organisationsform.

taz: Der Staat soll auf eine Kriegswirtschaft umstellen?

Saito: Der Klimakollaps zwingt uns, das aufzugeben, was als „business as usual“ gilt. Wenn wir einfach so weitermachen, bedeutet das weniger Freiheit und mehr Chaos. Wachstum ist kein tragfähiges Szenario.

 

taz: Wie sähe die Rolle des Staates denn etwa aus?

Saito: Sie ist komplementär zu den Graswurzelbewegungen, die ich in „Systemsturz“ beschrieben habe. Eine Top-down-Transformation: Planung, Organisation, Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen, Kontingentierung und Konzentration auf die essenziellen Güter. Es wird weiter privatwirtschaftliche Unternehmen geben, der Staat muss lebenswichtige Güter und Dienstleistungen bereitstellen.

Wir sprechen von universeller Grundversorgung und Infrastruktur. Um bestimmte Güter und Dienstleistungen zu ergänzen, kann der Staat eine indikative Planung durchführen: Unternehmen fördern oder sie anweisen, mehr Elektrofahrzeuge und Solarmodule zu produzieren.

taz: Das klingt nach weniger Freiheit.

Saito: Es geht eher um eine Neudefinition von Freiheit. Wir müssen vom Klimakollaps ausgehen. Dann werden wir die Art von Freiheit, die wir heute im Kapitalismus als selbstverständlich erachten, verlieren. Eines der zentralen Konzepte von Degrowth zeigt auf eine andere Freiheit: Es geht nicht darum, mehr zu konsumieren und mehr zu produzieren. Das ist kein Freiheitsmodell und keines der Emanzipation.

Mir scheint, eine radikale Neukonzeption von Freiheit ist die erste Voraussetzung für eine Transformation. Und die brauchen wir, weg von der Maximierung der Kapitalakkumulation und hin zu einem System, das sich für etwas entscheidet, das sonst im Kapitalismus marginalisiert wird. Es könnte Freizeit sein, Fürsorge, Natur, oder Gemeinschaft.

Wir müssen uns auf eine Form der Selbstversorgung zubewegen, die mehr Handlungsspielraum innerhalb der planetaren Grenzen schafft. Und das bedeutet nicht, unsere Entscheidungsfähigkeit zu negieren. Ich sehe den Moment der Freiheit in der Wahl zwischen dem Notwendigen und dem Unnötigen.

taz: Im Sinne Friedrich Engels’ „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“?

Saito: Nur subjektiven Neigungen zu folgen, bedeutet heute, einfach mehr Konsum zu legitimieren. Wir können neue Dinge kaufen. Es macht Spaß. Das ist natürlich eine Form von Freiheit. Nur hat die keine Zukunft. Oder vielleicht eine, die in Barbarei endet. Wenn wir also planen, einschränken und regulieren müssen, klingt das alles sehr nach autoritärer Verneinung von Freiheit.

Aber in der Geschichte gibt es genügend Beispiele für Epochen, aus denen wir lernen, dass Regulieren und Begrenzen als Freiheit galten. Und nicht das Befolgen seines animalischen Instinkts. Wenn man diese eher philosophische Definition von Freiheit in der Tradition der Aufklärung erkennt, muss man eigentlich nicht so viel Angst vor Begrenzung und Regulierung haben.

Unter dem zunehmenden Klimanotstand wird es auf eine ganz andere Form des Wirtschaftens hinauslaufen müssen

taz: In der Gegenwart fürchten viele Menschen um ihren Lebensstandard, haben Angst, ihre Arbeit, ihre Wohnungen zu verlieren. Das bringt viele von ihnen dazu, rechte, autoritäre Parteien zu wählen.

Saito: Für die Mehrheit der Menschen bedeutet der Fortbestand des heutigen Kapitalismus den Verlust von Wohnraum und Arbeitsplätzen – es wird weniger von all den guten Dingen geben, die die Menschen genießen. Nun verkennen viele Menschen Problem und Ursache. Sie glauben, dass wir aufgrund des geringeren Wachstums mehr Unsicherheit und Armut haben.

Doch tatsächlich erleben wir aufgrund des heutigen Kapitalismus mehr Unsicherheit, mehr Verluste und mehr Instabilität. Weil er Wohnraum der Finanzspekulation zugänglich macht, Arbeitsplätze bedroht, Engpässe schafft.

taz: Wie soll sich das ändern?

Saito: Die nächste Pandemie könnte dauerhafter sein. Wir werden mehr Naturkatastrophen erleben und weniger Wasser haben. Preise für Lebensmittel und Energie werden steigen, ebenso die Inflation. Das heißt, wir werden weniger konsumieren können. Daraus ergeben sich Chancen. Die Menschen werden erkennen, dass wir den Konsumismus aufgeben müssen. Das könnte unser Leben verändern und sich positiv auf unsere Gesundheit auswirken. Zum Beispiel, weil wir momentan einfach zu viel Fleisch und Fast Food essen.

Allerdings werden ohne Regulation insbesondere Superreiche einfach weitermachen. Das würde Gefühle von Ungerechtigkeit und einem Missverhältnis bei der Lastenverteilung der Verheerungen des Klimawandels auslösen und mehr Frustration schüren. Ultrarechte Parteien würden profitieren. Eine heikle Perspektive.

taz: Das Szenario einer Kriegswirtschaft lässt nicht so richtig befreit aufatmen …

Saito: Die Terminologie ist problematisch, das ist mir bewusst. Ich forsche gerade zu den systematischen Grundlagen. Mir geht es im Wesentlichen darum, zu erkennen, dass Kapitalismus Knappheit schafft, und Entschleunigung mehr Sicherheit schafft. Und nur mit Kollektiven und Graswurzelgruppen wird Transformation nicht funktionieren. Es wäre wichtig, dass der Staat Wohnraum, Nahrung oder Mobilität als essenzielles, entkommerzialisiertes Gemeingut reguliert.

Das kann er nur, wenn er mit politischem Druck dazu gedrängt wird. Wir müssen erkennen, dass die Interessen des Kapitals nicht unbedingt mit den Interessen der Mehrheit der Menschen übereinstimmen. Was ich als ersten Schritt klarmachen möchte, ist etwas ganz Einfaches: Der Kapitalismus ist ein grundlegendes Problem, nicht Degrowth.

taz: Warum setzte sich Degrowth bislang nicht durch?

Saito: In einer Gesellschaft, die ständiges Wachstum systemisch erfordert, ist es beinahe unmöglich, Degrowth-Ideen erfolgreich zu verbreiten. Ich schätze, zehn Prozent der Menschen sehen, dass ständiges Wachstum nicht mehr funktionieren kann. Viel mehr aber würden sagen: Wachstum ist nicht das Problem, sondern Verteilung. Sie glauben also, wenn es Wachstum und bessere Verteilung gäbe, ginge es uns gut.

taz: Verteilungsfragen blicken auf konkrete soziale Probleme, die man scheinbar direkt angehen kann …

Saito: Wenn man die Ökologie berücksichtigt, wird die Sache erheblich komplizierter. Ich habe früher den Green New Deal unterstützt, weil ich dachte, es sei möglich, dass eine Art Wohlfahrtsstaat bessere grüne Politik umsetzen und damit mehr Arbeitsplätze, mehr Sicherheit und eine Dekarbonisierung insgesamt ermöglichen könnte.

Ökologische Fragen sind viel komplizierter. Wir wissen, dass ein grüner Kapitalismus die Entkopplung der Emissionen vom Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nicht schnell genug schafft. Und jeder muss sehen, dass der exzessive Konsum im globalen Norden das Problem ist. Die Schwierigkeit von grünem Kapitalismus liegt offensichtlich darin, dass es einfach nicht attraktiv ist, den Leuten zu sagen: „Essen Sie nicht zu viel Fleisch, fliegen Sie nicht zu viel.“

taz: Wie soll nun ein neues Verhalten, eine Hinwendung zu Natur, Freizeit und Gemeinschaft entstehen?

Saito: Es geht nur im Zusammenspiel: Zunächst müssen wir Gemeinschaften aufbauen, eine Zivilgesellschaft, uns auf lokaler Ebene vernetzen. Dort kann man spüren und erleben, dass Waren und Geld nicht alles sind. Dort kann man Wege finden, um anders zu leben, indem man ein Gefühl von Stabilität und Solidarität mit Menschen aufbaut, die man mag, die dieselben Werte teilen. Und neue Werte entwickeln.

Ohne diese Bottom-up-Bewegung ist eine Top-down-Bewegung schlicht unmöglich. Doch die braucht es auch. Es wird unter dem zunehmenden Klimanotstand rasch auf eine ganz andere Form des Wirtschaftens hinauslaufen müssen. Da kommt der Staat ins Spiel.

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